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Tot
Auf Cape Cod scheint nicht so sehr der Spruch »Shit happens«, sondern »Sleep happens« zu gelten, obwohl auf unzähligen T-Shirts in den Auslagen der Souvenirläden etwas anderes behauptet wird. Als Mickey auch nach meinem vermutlich tausendsten Versuch noch nicht ans Telefon geht, überwältigt mich der Schlaf. Leg dich hin, sagt er. Die Sonne scheint vielleicht und du brauchst vielleicht etwas zum Mittagessen, aber du bist müde. Also schlafe. Flieh in den Schlaf vor Vätern und Freunden. Flieh in den Schlaf vor dem Klingeln von Mickeys Telefon, wo niemand abhebt. Flieh vor der Vorstellung in den Schlaf, wie deine Großeltern ihre Besitztümer in Kisten gepackt und dich aus Islip in eine andere Stadt gebracht haben, wo niemand dich kannte. Gut, sage ich. Das werde ich. Ich schließe die Augen, und die Welt hinter meinen Lidern wird leuchtend orange, doch das hält mich nicht davon ab, einzudämmern und wegzudriften. Ich lasse mein Leben zurück und versinke in dem viel zu weichen Bett in Zimmer 113 im Sand’n Surf Motel.
Als mein Handy mich weckt, ist der frühe Winterabend hereingebrochen. Es kann nicht später als fünf Uhr nachmittags sein, doch die Sonne hat längst ihren Schreibtisch aufgeräumt und ist gegangen. Es ist so kühl, dass mir ein Schauer über den Arm läuft, als ich nach dem quäkenden kleinen Ding taste. Dann fällt mir ein, dass es Mickey sein könnte. Voller Hoffnung setze ich mich kerzengerade auf dem weichen Bett auf.
»Hallo?«
»Rosie?«
»Mickey!«, schluchze ich und versuche, alles – Liebe, Reue, das Glück, das ich empfinde – in dieses eine Wort zu packen.
»Rosie?«, wiederholt er.
Er hat mich Rosie genannt! Zweimal!
»Ich bin ja so froh, dass du es bist! Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen!« Ganz ruhig, Rosie, ganz ruhig. »Ich wollte dir sagen, wie leid es mir tut, dass ich dich nicht auf diese Reise mitgenommen habe. Und ich wollte dir von dem Treffen mit meinem Vater erzählen. Aber vor allem wollte ich dir sagen, dass ich dich sehr vermisse, dass du mir unglaublich viel bedeutest und dass ich …«
»… Rosie …«
»… dich liebe. Was denn? Stimmt was nicht?«
»Es ist etwas Schlimmes, Rosie.«
»Was ist schlimm?« Noch während ich rede, weiß ich, dass das Nächste, was Mickey sagt, hart sein wird.
»Setz dich«, sagt er.
»Was ist los, Mickey?«
»Es tut mir leid, Rosie. Deine Mutter.«
»Was ist mit meiner Mutter?«
In die Tagesdecke auf dem Bett ist eine rote Linie eingewoben. Ich folge ihr mit den Augen und weiß, dass sie das Letzte ist, das ich in meinem Leben, wie ich es bisher kannte, sehe.
»Helen … ist … heute Morgen gestorben.«
Ganz ruhig knipse ich die Nachttischlampe an. Das Rot in der Decke ist sogar noch leuchtender, als ich es mir vorgestellt hatte. »Was ist sie?«
»Sie hatte heute Morgen einen Herzanfall. Es tut mir so leid, Rosie.«
Ich lausche, wie er ins Telefon atmet. Dann klemme ich den Hörer unters Kinn, erhebe mich vom Bett und fange an, die Falten in der Tagesdecke glatt zu streichen. Ich ziehe die obere Kante vorsichtig über die Kissen, klopfe und glätte, alles ganz zart, ganz vorsichtig.
»Rosie? Bist du noch da?«
Der Trick besteht darin, unterhalb der Kissen eine schöne, scharfe Kante hinzukriegen. Hat Helen immer gesagt. Ich steche mit der Hand hinein, dann noch mal und noch mal, immer fester.
»Rosie? Rosie?«
Stech. Stech. Stech. »Ich mache das Bett«, sage ich zu ihm. Meine Stimme klingt leise und erstickt.
»Warum setzt du dich nicht hin, Liebes. Wie wäre es, wenn ich komme und dich abhole?«
Helen würde diese Tagesdecke gefallen. Die schönen Gold-und Erdtöne würden perfekt mit ihrem Beige harmonieren. »Perfekt«, sage ich laut. »Perfekt«, höre ich mich noch einmal sagen. Ich ziehe einen harten Stuhl zu mir heran und lasse mich darauf nieder.
»Soll ich dir erzählen, was passiert ist?«, fragt Mickey sanft.
Ich atme tief ein. »Ich habe heute Johnny Bellusa kennengelernt«, sage ich.
»Soll ich es dir erzählen?«
»Ja.«
»Sitzt du?«
»Ja.«
»Gut.« Noch ein Atemzug. »Pulkowski hat heute Morgen gegen sieben angerufen. Er hat mich gebeten, zu ihm zu kommen. Er sagte, dass Helen in die Küche gegangen sei. Sie wollte Kaffee machen und dann … ist sie umgefallen. Ich habe ihn gefragt, ob er den Notarzt verständigt hat, aber er sagte, er wisse Bescheid. Er sagte, er wisse aus dem Krieg, wenn jemand tot sei.«
»Sie war tot?«
»Ja.«
»Tot.« Wieder die erstickte Stimme. Wieder stehe ich auf und streiche die Decke über den Kissen glatt. Helen ist überall – in meinen Gedanken, in meinen Angelegenheiten, in den Wandschränken und Schubladen meiner Wohnung, in dem Haus ohne Wände in Albatross. Sie kann doch nicht einfach verschwinden, genauso wenig wie Luft, Gras oder Autos verschwinden können. Sie hat doch nur Kaffee gekocht! Sie war dabei, sich eine Tasse einzuschenken und sie auf ihrem Tablett vor den Fernseher zu tragen, um dann in ihrem beigefarbenen Wohnzimmer ihre Morgensendungen anzuschauen. Jemand wie Helen verschwindet doch nicht einfach. Ich bin verschwunden, und zwar in diesem Motelzimmer auf Cape Cod, wo ich auf einem harten Stuhl sitze.
Ich rufe bei Johnny Bellusa an und hinterlasse die Nachricht, dass ich nicht mit ihm essen gehen kann. Ich ertappe mich dabei, dass ich ihm erzähle, warum nicht, fast so, als wolle ich, dass er leidet. Ich raffe meine Sachen zusammen und verlasse das Sand’n Surf. Struppige Kiefern fliegen entlang der Route 28 vorbei und winken mit ihren Ästen. Raus aus der Stadt!, ächzen sie und schütteln ihre stacheligen Fäuste. Sie ist tot!, klagen sie, obwohl ich ihnen nicht glaube. Was wissen struppige Kiefern denn schon? Wer kennt Helen besser als ich?
Niemand kennt sie besser als ich. Nicht einmal Alexa. Ist es wichtig, durch wessen Geburtskanal ich in Wirklichkeit gekommen bin? Ich bin geblieben. Ich habe ausgeharrt. Habe sie geliebt, als es schwer war. Ich bin viel mehr Helens Tochter, als meine Mutter es je war. Es ist an mir zu sagen, wer von uns gegangen ist und wer nicht. Sie kann nicht weg sein. Ich konnte ihr nicht einmal Lebwohl sagen. Und Pulkowski braucht sie schließlich. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie die Reste des Thanksgiving-Truthahns in Frischhaltefolie gewickelt und weggestellt.
Am Telefon hatte Mickey an seiner Version festgehalten, ganz egal, was ich auch sagte, um ihn davon abzubringen. Sie lag in der Küche. Auf dem Boden. Pulkowski wusste Bescheid. McClain’s Beerdigungsunternehmen. Komm. Komm. Soll ich dich holen?
Natürlich nicht, hatte ich ihm gesagt. Ich habe das Auto.
Ich kann fahren. Jetzt kehre ich hastig in das Heim meiner Kindheit zurück und folge den Anweisungen des Routenplaners in umgekehrter Reihenfolge, damit ich bei Pulkowski sein kann, bei ihm sitzen und mit ihm Helens Trauerfeier planen kann. Mickey sagte, er werde da sein, wenn ich ankomme, und die Vorstellung, heute Abend in seinen Armen zu liegen, erfüllt mich mit einer schuldbewussten Freude, die meinen Schmerz durchdringt.
Johnny Bellusa wird noch warten müssen. Was Alexa angeht, seine entlaufene Freundin, so weiß sie nicht einmal, dass unsere Mutter tot ist.